Die Begegnung mit Constantin Brunner fällt nach Tagebuchaufzeichnungen von Lou Andreas-Salomé in das Jahr 1910. Sie hat offensichtlich direkt nach der Lektüre der „Die Lehre von den Geistigen und vom Volk“ Brunners und einer Diskussion darüber mit Gustav Landauer die persönliche Begegnung mit Constantin Brunner gesucht und gefunden. Was sich in dieser Begegnung tatsächlich abgespielt hat, ist nicht mehr rekonstruierbar. Die (durchaus kritische) Begeisterung Lou Andreas-Salomés für die Lehre Brunners ist jedoch insofern von großer Bedeutung, als der Zeitpunkt nahezu mit der wohl wichtigsten biografischen Zäsur in Lou Andreas-Salomés Leben korrespondiert: der Begegnung mit Freuds Psychoanalyse.
In der kollektiven Geistesgeschichte spiegelt sich ein ähnlicher Übergang: nämlich der zwischen Nietzsches Lebensphilosophie und Freuds Psychoanalyse. Die abendländische Trennung von Geist, Körper und Seele war für die DenkerInnen dieser Zeit nicht mehr aufrecht zu erhalten. Brunners Versuch einer spinozistisch gedachten Ethik war in Lous Augen von beeindruckender „Größe“ und setzte Nietzsches Ansätze fort. Doch ähnlich wie dieser (und vielleicht auch deswegen von Brunner selbst als „Antipode“ gewertet) konnte er sein Denken nicht in sein Leben übersetzen. An diesem Punkt hat sich wohl die von anfänglicher, hoffnungsvoller Begeisterung getragene (kolportierte) Aussage Lou Andreas-Salomés „sie wolle nur mehr für diese Lehre leben“ in distanziertes Wohlwollen verwandelt.
Nur ein Jahr später fand Lou Andreas-Salomé das, was sie bei Brunner vermeintlich identifiziert hatte, in der Begegnung mit Freud und seiner Psychoanalyse wieder: nämlich die sachlich-praktische Umsetzung einer Lehre, die diesseits von Transzendenz, Metaphysik und ideologisch-spekulativer Überzeugung den ganzen Menschen in seinem Beziehungsgeflecht nicht nur zu erforschen trachtete, sondern auch in der Anwendung der Psychoanalyse, zu einem selbstbestimmten, individuellen Lebensmuster verhelfen konnte.
(von Claudia Weinzierl, die den Vortrag »Die Begegnung Lou Andreas-Salomé und Constantin Brunner. Der ›missing link‹ zwischen Lebensphilosophie und Psychoanalyse?« am 23.10.2012 bei der Tagung »Constantin Brunner im Kontext« im Jüdischen Museum Berlin gehalten hat)
Kurzbiografie von Constantin Brunner
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Lou Andreas-Salomé und der Allgemeine bayrische Frauentag
Am 18.-21. Oktober 1899 hat in München der erste Allgemeine bayrische Frauentag stattgefunden.
Beim Festabend, am Samstag, den 21. Oktober, verlas Ria Claasen Lou Andreas-Salomés „Gebet an das Leben“. Unter dem Motto „Gedichte moderner Dichterinnen“ wurden auch Gedichte von Ada Negri, Marie Janitschek, Thekla Lingen, Ricarda Huch, Emmy von Egidy, Alberta von Puttkammer und Anna Ritter vorgetragen. Zur Aufführung kam auch eine szenische Dichtung mit dem Titel „Culturbilder aus dem Frauenleben“ von Marie Haushofer.
Ans Licht gebracht hat dies die Ausstellung „Evas Töchter“, die noch bis zum 16.9. in der Münchener Monacensia-Sammlung zu sehen ist. Der Text der szenischen Dichtung ist zusammen mit etlichen Fotos der Aufführung im zugehörigen Ausstellungskatalog abgedruckt.
Veranstaltet wurde der Allgemeine bayrische Frauentag vom Verein für Fraueninteressen, der 1894 gegründet worden war. Gründungsmitglieder war u.a. Anita Augspurg. Später waren auch die Schwestern Mathilde und Sophia Goudstikker, Rainer Maria Rilke, Hermann Obrist und etliche andere bekannte Namen – u.a. auch eine Frau Prof. Pringsheim – Mitglied im Verein. Von einer Mitgliedschaft Lou Andreas-Salomés findet sich allerdings keine Spur.
Vielen Dank für die Unterstützung bei der Recherche durch Frau Elferich vom Verein für Fraueninteressen e.V.
Weiterführende Links:
Ausstellung: https://www.muenchner-stadtbibliothek.de/monacensias/ausstellungen/aktuelle-ausstellung/
Verein für Fraueninteressen: https://www.fraueninteressen.de/